Podcast Folge 2: Carotis-Stenose bei älteren Patienten: Wann ist eine Intervention wirklich notwendig?
Moderation: PD. Dr. Barbara Rantner
Gast: Prof. Dr. med. Lars Kellert
Wann ist eine Operation bei älteren Patientinnen und Patienten mit Carotis-Stenose wirklich notwendig? PD Dr. Barbara Rantner spricht mit Prof. Dr. med. Lars Kellert über die Rolle von Alter, Frailty und Kognition – und darüber, warum die offene Operation auch bei Hochbetagten oft die beste Wahl sein kann.


Carotis-Stenose bei älteren Patienten
Themen in dieser Episode:
- Carotis-Stenose bei älteren Patientinnen und Patienten
- Wann eine Intervention wirklich sinnvoll ist
- Unterschiede zwischen operativen und interventionellen Verfahren
- Individuelle Risikonutzenabwägungen und Patientenautonomie
- Spannende Einblicke in die gemeinsame Entscheidungsfindung
Weiteres zur Folge
In dieser Folge sprechen PD Dr. Barbara Rantner und Prof. Dr. med. Lars Kellert über die Behandlung der Carotis-Stenose bei älteren Patientinnen und Patienten. Wann ist eine Intervention wirklich sinnvoll – gerade bei hochbetagten Menschen mit vielen Vorerkrankungen? Welche Rolle spielt das biologische Alter, welche Rolle spielt Frailty?
Anhand aktueller Registerdaten und vieler klinischer Erfahrungen diskutieren Gefäßchirurgie und Neurologie interdisziplinär. Dabei geht es unter anderem um die Unterschiede zwischen operativen und interventionellen Verfahren, um individuelle Risikonutzenabwägungen, Patientenautonomie und das Ziel, Eigenständigkeit zu erhalten.
Ein spannender Einblick in die gemeinsame Entscheidungsfindung, wenn es um mehr geht als nur um die Engstelle im Gefäß.
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Einstieg:
Rantner: Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, herzlich willkommen zu einer neuen Folge von Gefäße im Fokus – Fortschritte in der Gefäßchirurgie und Gefäßmedizin. Mein Name ist Barbara Rantner. Ich bin Gefäßchirurgin und Oberärztin am Klinikum der LMU in München. Dieser Podcast soll für Sie, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, eine Plattform bieten, um tief in die Themen einzutauchen, die unser Fachgebiet prägen und voranbringen. Gemeinsam mit unseren Gästen beleuchten wir die neuesten Entwicklungen in der operativen, endovaskulären und präventiven Gefäßmedizin und diskutieren aktuelle und sicher auch kontroverse Themen aus Wissenschaft, Lehre, Klinik und Praxis. Ganz nach unserem Motto: „Wir denken Gefäße weiter“. Heute wollen wir uns einer wichtigen Frage widmen, die uns in der Gefäßmedizin und Vaskulärmedizin zunehmend beschäftigt. Welche Rolle spielt das Altern in der Entscheidungsfindung zu invasiven Therapien? Welche Bedeutung hat und muss das Alter in der Risikonutzenabwägung für Operationen und Interventionen tragen? Dieses Thema wollen wir anhand von Patientinnen und Patienten mit Carotisstenosen diskutieren, die ja traditionell sich mit einem Altersschnitt von über 70 Jahren bei uns in der klinischen Praxis präsentieren. Und ich freue mich ganz besonders dazu, meinen Kompanion und Entscheidungsfinder hier aus dem LMU-Klinikum begrüßen zu dürfen, Prof. Dr. med. Lars Kellert. Er ist Leiter der Schlaganfalleinheit hier an der LMU in Großhadern, Neurologe und ausgewiesener Schlaganfallexperte.
Mittelteil
Rantner: Ich freue mich sehr, Prof. Lars Kellert als Leiter der Schlaganfalleinheit an der LMU in München begrüßen zu dürfen.
Kellert: Hallo Barbara, ich freue mich, dass wir die nächste Zeit hier miteinander sprechen können und vielen Dank für die Einladung.
Rantner: Lars, wir sind ja schon jetzt seit einigen Jahren hier am LMU-Klinikum gemeinsam tätig, Kompanions, Brothers in Arms sozusagen, in der Entscheidungsfindung von Patientinnen und Patienten mit Carotisstenosen. Wir haben Octogenarians, wie sie mittlerweile ja liebevoll genannt werden, also Patientinnen und Patienten, die jenseits der 80 hier aufschlagen, sozusagen standardmäßig. Und deswegen, denke ich, ist schon der Patient mit Carotisstenosen sehr gut dazu geeignet, dass man einmal das Alter in der Entscheidungsfindung diskutiert und vielleicht auch für unsere Hörerinnen Aspekte erklärt, die für uns relevant sind, die wissenschaftlich argumentiert werden können und wie also das Alter oder beziehungsweise eigentlich die vielleicht Gebrechlichkeit des Patienten, wenn wir darüber auch sprechen wollen, in der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden sollen. Wir haben da ein Paper aus dem amerikanischen Raum sozusagen als Diskussionsgrundlage für uns beide herausgenommen. Es wurden 2022 Daten aus dem Vascular Quality Initiative, Registerdaten also aus den Vereinigten Staaten, publiziert, wo explizit Patientinnen und Patienten, die über 80 Jahre alt waren und an der Carotisstenose behandelt wurden, untersucht worden sind. Lars, könntest du uns mal so die Eckdaten für unsere Zuhörerinnen und Zuhörer von dieser Publikation zusammenfassen, dass wir sehen, wie viele Patienten da überhaupt berücksichtigt worden sind und wie die Ergebnisse für die unterschiedlichen Behandlungsgruppen waren?
Kellert: Ja, mache ich sehr gerne. Und vielen Dank, dass du schon so sehr schön in das Thema, in das komplexe Thema eingeführt hast, vaskuläre Patienten und höheres Lebensalter, das ist ja sicherlich ein schwieriges, aber sehr wichtiges Thema. Die Studie, das sind Register, also Daten aus einem Register oder aus einem Qualitätsregister aus den USA und Patienten wurden eingeschlossen zwischen 2005 und 2020, also über einen Zeitraum von 15 Jahren und doch insgesamt eine beeindruckend hohe Zahl von über 28.000 Patienten. Und das hat Barbara schon gesagt, ganz wichtig, die waren alle 80 oder älter und wurden dann an einer Carotisstenose versorgt, entweder mittels CA, mittels CAS oder mittels TK. Wichtig noch, die Patienten waren im Mittel tatsächlich 83 Jahre alt und 49,8 Prozent, wenn ich es richtig in Erinnerung habe, waren symptomatische Stenosen, das heißt genau die Hälfte. Das wiederum heißt, die andere Hälfte waren asymptomatische Stenosen, was doch ganz erstaunlich ist, weil man dann hier sehr, sehr viele Daten auch zum Outcome und zur Komplikation von asymptomatischen Carotisstenosen bei Älteren, wo das Thema ja vielleicht auch nochmal besonders relevant ist, bekommt. Und die Daten aus dieser Studie zumindest sind sehr, sehr eindeutig. Die Patienten, die operiert wurden, hatten mit Abstand die günstigste periprozedurale Komplikationsrate, also der periprozedurale Stroke oder Death war wesentlich besser als bei den anderen Patienten.
Rantner: Lars, du hast es schon gesagt, es wurden in den Registerdaten drei unterschiedliche Behandlungsmethoden erhoben, eben die klassische offene Operation und das Carotis-Stenting, das mittlerweile ja auf zwei unterschiedliche Arten durchgeführt werden kann. Das klassische ist nach wie vor der transmemorale Zugang, wo man eben über die Leiste des Gefäßes die Carotis sondiert, dabei den Aortenbogen sondieren muss und das Risiko der Embolisation durch diese Aortenbogenpassage in Kauf nimmt. Und sicherlich aus der Motivation heraus wurde dann das TCAR entwickelt. Das ist also das Retrorade- Carotis -Stenting sozusagen, sogar mit Flow Reversal, wo eine Embolisationsprotektion dadurch erzielt wird, dass die Carotiskommune einerseits geklemmt wird, also die Anticarotisperfusion wird unterbunden und zusätzlich hat man also einen Retrograde-Flussumkehr in die Vena femoralis gemacht, um so also die Embolisation Cerebral so gering wie möglich zu machen. Jetzt ist das Verfahren bei uns in Europa leider nur sehr eingeschränkt zugänglich, aber man könnte sich natürlich schon vorstellen, dass das Verfahren für die gerade auch Älteren schonend sein könnte. Die Registerdaten zeigen das. Wie siehst du das?
Kellert: Also die sogenannte TCAR ist auf jeden Fall in diesen Registerdaten günstiger gewesen als der transfemorale Zugang, um eben die Aorta zu schonen. Das hast du ja gerade sehr schön illustriert. Dennoch ist die Carotis -TE-Art tatsächlich überlegen, in allen Aspekten, muss man ehrlicherweise sagen, auch dem TCAR.
Rantner: Wir stellen Indikationen bei symptomatischen Patienten großzügig. Lars, du und ich treffen uns immer wieder am kurzen Dienstweg. Wir haben jetzt zuletzt zweimal hintereinander fast 90-jährige Patientinnen und Patienten nach Schlaganfall behandelt. Wie schätzt du das ein? Was denkst du, bei welchen Patienten wird man trotz des drohenden Schlaganfalles oder trotz einer vielleicht auch schon bestehenden Invalidisierung von einer Therapie Abstand nehmen? Beziehungsweise wann schrecken wir nicht zurück beim 90-Jährigen zu sagen, okay, den kann man guten Gewissens operieren und der wird auf alle Fälle davon profitieren?
Kellert: Also ganz wichtig ist selbstverständlich die Unterscheidung zwischen den symptomatischen und den asymptomatischen Stenosen. Wir versorgen hier am Standort ja gemeinsam beide Patienten. Also wir haben die Patienten, die mit einer symptomatischen Stenose typischerweise auf unserer Schlaganfalleinheit landen und die wir dann sehr akut besprechen und auch glauben, dass wir die sehr frühzeitig typischerweise versorgen sollten. Zumindest mal innerhalb der ersten Tage oder ein, zwei Wochen spätestens, aber man muss sich zumindest schnell darüber klar werden, wann man sie versorgen muss. Und dann haben wir selbstverständlich Patienten, die über die Ambulanzen kommen oder über Zufallsbefunde mit asymptomatischen Stenosen. Auch die besprechen wir sehr intensiv, aber haben sicherlich typischerweise ein bisschen weniger Zeitdruck. Bei den symptomatischen Patienten ist es so, dass das Rezidiv-Schlaganfall-Risiko so hoch ist, dass man meiner Meinung nach primär gute Gründe braucht, es nicht zu machen. Alter ist tatsächlich per se kein guter Grund. Wir wissen, dass das Alter letztendlich individuell unterschiedlich ist. Ein 70-Jähriger ist nicht gleich 70-jährig oder 80 nicht gleich 80, sondern selbstverständlich kommt es auf die Komorbiditäten an, auf den Fortzustand des Patienten, auf Dinge, die man möglicherweise neu entdeckt.
Es ist keine Seltenheit, dass wir im Rahmen unserer Schlaganfall-Routine-Diagnostik beispielsweise bei der sehr tief gefahrenen CTA, wo wir viel von der Lunge mitsehen, plötzlich einen Lungenrundherd finden, den der Patient nicht kannte. Und dann würde ich sagen, es ist sinnvoll zunächst einmal zu schauen, hat der Patient möglicherweise einen malignen Lungentumor, der schon metastasiert hat. Und dann ist die Lebenserwartung ganz anders einzuschätzen, als wenn wir diesen Zufallsbefund gar nicht gefunden hätten. Und da muss man über die Versorgung der Carotis im Nachgang nachdenken. Bei den allermeisten Patienten allerdings ist die Versorgung der symptomatischen Carotisstenose so vorrangig, dass es die meisten anderen Erkrankungen tatsächlich sticht.
Rantner: Aus speziell neurologischer Sicht, wir diskutieren es immer wieder mal kritisch, wenn die Patienten schon eine Demenz mitbringen oder wenn der Schlaganfall zu invalidisierend ist, wird man auch altersunabhängig die Indikationen natürlich kritisch sehen. Aber lass uns noch mal kurz über diesen Demenz- und Eigenständigkeitsgedanken sprechen, der ja auch gerade bei den Älteren schon eine zentrale Rolle spielt. Wie denkst du, muss das berücksichtigt werden?
Kellert: Demenz als ein Schlagwort umfasst sicherlich nicht die ganze Vielfalt von kognitiven Einschränkungen, die Menschen in höherem Alter bekommen. Das reicht ja von leichten kognitiven Störungen, die im Alltag nur minimal einschränkend sind, bis zu schwerster Pflegebedürftigkeit und praktisch kaum noch Teilnahme am Leben. Das muss man ganz klar unterscheiden. Wenn jemand leichte kognitive Einschränkungen hat im Alltag, aber mobil ist und gut zurechtkommt, sollte man überhaupt keine anderen Kriterien anlegen, als an einen völlig gesunden Patienten. Wenn allerdings jemand entweder schon vorbestehend oder durch den Schlaganfall sehr schwer eingeschränkt ist, dann glaube ich, muss die Indikation auch sehr, sehr streng gestellt werden.
Rantner: Wir gehen da ja oft auch in etwas kontroverse Diskussionen mit den Angehörigen, weil die natürlich Druck in die eine oder andere Richtung ausüben können, unter Anführungszeichen. Aus chirurgischer Sicht muss man natürlich immer die Frage stellen, wie eine Operation tatsächlich toleriert wird. Wir operieren wann immer möglich mittlerweile in Lokalanästhesie, haben damit mit unserem Anästhesie-Team sehr gute Erfahrungen gemacht. Das kommt auch besonders den älteren Patienten entgegen, wenn die Vollnarkose erspart bleiben kann. Auf der anderen Seite muss man immer wissen, dass es auch zu Nachblutungen kommen kann, die dann doch in Vollnarkose stattfinden müssen. Diese kritische Balance sozusagen bei den über 80-Jährigen, dass man sagt, man gibt ihnen die „Chance“ auf einen guten Eingriff und damit schnelle und rasche Rehabilitation und auch neurologische Erholung in Abwägung mit dem Risiko der operativen Komplikation, der Vollnarkose, des postoperativen Delirs und, und, und. Das muss ja so ein bisschen in Balance gehen. Wie siehst du das, Lars? Wie werden die Gespräche mit den Angehörigen diesbezüglich auch geführt und natürlich auch mit den Patienten selber?
Kellert: Also die Gespräche mit Angehörigen und Patienten müssen auf jeden Fall interdisziplinär geführt werden. Da reicht jetzt nicht der Neurologe, da reicht auch nicht der Gefäßchirurg, da müssen die Kardiologen mit an Bord und die Anästhesisten, die Radiologen, dass man sich die lokalen Bedingungen wirklich genau anguckt. Und dann habe ich aber eigentlich die Erfahrung gemacht, dass wir immer doch zu einer sehr vernünftigen und rationalen Überlegung kommen, mit der wir und Patienten und Angehörige am Ende immer ganz zufrieden waren. Also so wirkliche Dilemmata, finde ich, haben wir da sehr selten erlebt.
Rantner: Wie du sagst, das ehrliche Gespräch ist sicherlich das Beste. Nur kurz zum Thema Stenting bei den symptomatischen, gerade die Älteren. Das ist ja das, was die Patienten vielleicht oft auch von auswärts signalisiert bekommen und vielleicht auch die Angehörigen. Kann weniger invasiv sein, kann weniger belastend sein für das Kreislaufsystem, braucht auch keine Vollnarkose. Die Datenlage ist nicht besonders überzeugend, aber wie ist deine Meinung dazu und wie gehen wir vor, wenn jetzt der Patient wirklich explizit da auf das Stenting drängt?
Kellert: Zunächst einmal haben wir als Ärzte die Verantwortung, Patienten nach bestem Wissen und Gewissen aufzuklären über das, was wir für richtig halten und das basiert typischerweise auf einer Studienlage. Die Daten für die Operation sind einfach besser als für das CAS, insbesondere bei älteren Patienten. Es mag Situationen geben, wo der Patientenwille vielleicht dann auch sticht und wo man sagt, okay, wenn das jemand partout will, dann muss man das mit den Neuroradiologen entsprechend besprechen und das ist ja dann auch trotzdem noch ein Eingriff, der mit einem insgesamt sehr niedrigen Risiko einhergeht, auch wenn er statistisch über der Operation liegt.
Rantner: Die symptomatischen Patienten bereiten uns eigentlich ja gerade im höheren Alter, wie du schon gesagt hast, weniger Sorgen als die asymptomatischen Patienten, die aber ja auch zunehmend, ehrlicherweise standardmäßig mit diesen Diagnosen auftauchen. Du hast es schon gesagt, die Indikationsstellung zur Revaskularisation bei asymptomatischen Patienten wird sehr streng gestellt. Es gibt mittlerweile Kriterien, die die Plagmorphologie, Progression, stumme Infarkte betreffen, die überhaupt in die Indikationsstellung mit einbezogen werden sollen und zusätzlich wird in unterschiedlichen Leitlinien mittlerweile eine Lebenserwartung von fünf Jahren gefordert, um die Revaskularisation überhaupt sinnvoll indizieren zu können. Kommt es dann überhaupt bei den über 80-Jährigen in Frage, dass man dann an eine Operation denkt oder muss man das Ganze doch ein bisschen weiter sehen?
Kellert: Ich glaube, die Frage ist ganz, ganz wichtig und überhaupt nicht irrelevant, sondern wir sehen diese Patienten sehr häufig, sehr oft und haben diese Zusatzkriterien, die auch in den Leitlinien teilweise festgeschrieben sind, wie Progredienz, Morphologie, stumme Ischämie, gar nicht unbedingt immer zur Verfügung, weil der Patient vielleicht die Erstdiagnose einer höchstgradigen ACI-Stenose hat, sonst immer gesund war. Ich glaube, da tut man sich schon sehr schwer, eine operative Revaskularisierung dem Patienten vorzuenthalten, wenn wir jemand vor uns haben, der erstmal gesund ist. Rein statistisch weiß ich leider gerade gar nicht auswendig, wo die Lebenserwartung liegt, aber wenn wir einen gesunden 80-Jährigen haben, bin ich mir ziemlich sicher, dass seine Lebenserwartung schon über dem Durchschnitt liegt und da müssen wir erstmal davon ausgehen, soweit wir das beurteilen können, dass die Lebenserwartung auch bei möglicherweise mehr als fünf Jahren liegt und da hätte ich keine großen Probleme, dem dann zu einer Operation zu raten.
Die Frage ist natürlich, können wir tatsächlich die nächsten fünf Jahre überblicken und natürlich können wir das überhaupt nicht. Wir wissen nicht, was in den nächsten ein, zwei Jahren an Tumordiagnosen kommt, an Herzinsuffizienz, an was auch immer, ist überhaupt nicht seriöserweise einsehbar. Das heißt, wir können zu dem Zeitpunkt nur sagen, aktuell ist ein gesunder oder relativ gesunder 80-Jähriger oder 80-Jährige und dann bin ich mir sehr sicher, dass die Daten, die wir hier sehen, ein gutes Argument und eine gute Basis liefern, doch diese Patienten möglicherweise auch in der Konstellation einer asymptomatischen Stenose zu operieren.
Man muss natürlich schon einschränkend auch sagen, dass das Registerdaten sind und es keine Vergleichsgruppe gibt. Das heißt, wir haben keine Vergleichsgruppe mit Patienten, die halt nur konservativ behandelt werden und es ist nicht auszuschließen, dass auch die über 80-Jährigen mit asymptomatischen Stenosen mit Best Medical Treatment möglicherweise auch gut fahren.
Rantner: Du hast es ja schon gesagt, der Patient ist gut beisammen. Ich bin da immer so ein bisschen misstrauisch, wenn mir jemand erklärt, ja, der Patient, der ist super fit, den kann man problemlos operieren. 80 ist das Neue, 60 und dann sieht man die Patienten und natürlich sind sie schon, also der klassische Gefäßpatient ist ja jetzt halt eben schon ein klassischer Gefäßpatient, die sind ja oft Diabetiker, gerade die Carotis-Patienten und dann sagst du, ja, wenn der gut beisammen ist und sonst gesund, dann hättest du keine Bedenken.
Wäre es eventuell legitim, sich bei den asymptomatischen Patienten doch etwas mehr auch mit der Ist-Situation zu beschäftigen? Normalerweise werden Carotis-Patienten ja ungewöhnlich unkritisch, auch von unserer Seite, auch von chirurgischer Seite, für die Operation freigegeben. Die Anästhesisten haben selten Einwände. Für Aorten-Patienten zum Beispiel empfehlen wir doch immer wieder die Echokardiographie im Vorfeld und dass der Blutdruck gut eingestellt ist und so. Das ist was, was bei den Carotis-Patienten ja nicht so streng gespielt wird. Wäre das vielleicht schon doch ein Ansatz, dass man jetzt sagt, okay, man erwirkt jetzt frisch, frischer als vielleicht jetzt der Durchschnitts-80-Jährige, aber dass man vielleicht doch etwas Zeit investiert, um das periprozedurale Risiko abzuklären im Vorfeld?
Kellert: Mehr Zeit zu investieren ist auf jeden Fall sinnvoll. Es kommt immer darauf an, wer den Patienten als gut beisammen verkauft. Wenn wir Neurologen das machen, dann ist es wahrscheinlich meistens so, weil wir tatsächlich bei allen Patienten, die vaskulär sind, den sogenannten Modified Ranking Scale erheben. Das heißt, wir schauen nach der Alltagstauglichkeit. Das heißt, es reicht uns nicht, wenn der Patient vor uns sitzt, der sagt, ja, es passt alles schon, sondern wir gucken uns das wirklich an. Ist der selbstständig? Kann der laufen? Kann er sich selbst versorgen? Oder hat er schon erhebliche Einschränkungen im Alltag? Und die beruhen dann ja typischerweise auch auf Komorbiditäten, die dann wiederum natürlich die gesamte Prognose auch möglicherweise in eine bestimmte Richtung verändern. Also selbstverständlich ist es sehr, sehr sinnvoll, wie du das gesagt hast, Frailty mit einzubeziehen oder Alltagstauglichkeit und das sicherlich viel stärker zu gewichten als Alter.
Ich meine, 80 ist das neue 60 wäre schön, weiß ich nicht genau, ob das tatsächlich so ist. Ich glaube schon, dass es viele Leute gibt, die gesünder älter werden als früher. Aber selbstverständlich lässt sich irgendwann nicht leugnen, dass das Leben gewisse Spuren hinterlässt und Vaskulärpatienten typischerweise natürlich auch eher alte bis mittelalte und natürlich eigentlich nie oder fast nie junge Patienten sind. Das heißt, ich glaube, es ist schon eine Kombination aus einigen verschiedenen Aspekten.
Rantner: Naja, der Mensch ist so alt wie seine Gefäße. Ja, Lars, diesen alten Spruch kann man nicht ganz wegdiskutieren. Du hast jetzt den Begriff des Frailty schon benutzt, ist ja auch in aller Munde. Jetzt eben Octogenarians und Frailty, das geht immer so Hand in Hand sozusagen, wenn man ja so ein bisschen die Literatur durchforstet. Es gibt ja viele Frailty-Scores, die benutzt werden. Du sagst, der Neurologe benutzt den Modified Ranking Score, um die unabhängige Leistungsfähigkeit des Patienten beurteilen zu können. Benutzt ihr auch Frailty-Scores oder seid ihr da wirklich auf diese neurologischen Scores fokussiert?
Kellert: Also in der Vaskulärneurologie ist der Modified Ranking Scale das A und O, der bestimmt, welche Patienten noch in welche Studie dürfen. Der definiert oft das Outcome von vaskulären Studien, nämlich entweder, dass man einen guten Ranking Scale erreicht oder wenn man den Vorstudieneinschluss nicht hatte, dass man wieder back to baseline kommt, also auf den Wert, den man vorher hatte. Und das ist da das Nonplusultra. Es gibt aber natürlich in anderen neurologischen Bereichen, da muss ich jetzt nicht abschweifen, ganz andere Scores für Parkinsons oder sowas als für Schlaganfälle. Aber das ist unser Score. Ist aber sicherlich möglicherweise ausbaubar oder ergänzbar durch andere.
Rantner: Durch diese strenger werdende Indikation für die asymptomatischen Carotisstenosen hat man so ein bisschen, ich will jetzt nicht sagen aus der Not heraus, noch andere Indikationsstellungen aktiviert und dazu gehört auch die kognitive Leistungsfähigkeit. Es war lange Zeit eigentlich gehofft, dass eine Revaskularisation von hochgradigen Carotisstenosen auch die kognitive Leistungsfähigkeit verbessern könnte. Das wäre ja gerade auch wieder für die älteren Patienten mit vielleicht schon beginnenden Einschränkungen kognitiver Art ein Argument zu sehen. Wie ist deine Meinung dazu und auch wie ist die Datenlage?
Kellert: Also die Datenlage ist diesbezüglich noch nicht überzeugend und es gibt auch keine randomisierten Studien, die genau diesen Punkt adressieren, sondern es sind entweder immer Nebenpunkte oder es sind keine prospektiven klinischen Studien. Ich erwarte nicht, dass die kognitive Situation sich bessert, wenn der Blutfluss sich bessert. Das ist eine ganz unphysiologische Vorstellung vom Gehirn. Ich könnte mir vorstellen, dass eine vernünftige Studie untersuchen würde, ob die fortschreitende Verschlechterung möglicherweise aufgehalten wird durch eine Revaskularisierung, dass der Patient einen gewissen Status Quo erreicht versus eine Kontrollgruppe, wo nicht revaskularisiert wird und dann möglicherweise eine progredierte Verschlechterung eintritt. Das wäre ein sinnvolles oder plausibles Konzept aus neurologischer Sicht. Eine Verbesserung kann man sich nicht vorstellen, nur weil „mehr Blut oder besseres Blut“ reinfließt. Deswegen wird selbstverständlich das Gehirn nicht besser arbeiten als vorher.
Rantner: Schade eigentlich. Wird denn die kognitive Leistungsfähigkeit der Patienten bei euch in dieser Vaskulären Sprechstunde erfasst? Macht ihr so kognitive Tests mit den Betroffenen?
Kellert: Ja, nur wenn es Hinweise darauf gibt, dass Patienten betroffen sind, dann gibt es Tests, die gemacht werden. Zum Beispiel der MOCA, so ein ganz einfacher Test, mit dem man Hinweise auf Demenz findet. So etwas wird regelmäßig gemacht. Ansonsten aber natürlich auch ganz viel so Quality-of-Life-Untersuchungen, also PROMs. Das ist eher das, was auch ganz wichtig ist, wie zufrieden, wie glücklich sind Patienten im Alltag. Das ist ja bei manchen Sachen fast viel wichtiger als die objektive Einschätzung.
Rantner: Das leitet ja schon über so in diese Zusammenfassung, die wir den Hörerinnen und Hörern nochmal geben wollen. Mein Motto für die Carotis-Revaskularisation ist ja immer, wir wollen Schlaganfälle verhindern und wir wollen die Eigenständigkeit und die Selbstständigkeit der Patientinnen und Patienten so gut wie möglich erhalten, vielleicht auch verbessern, wenn sie sich dann von einem Schlaganfall besser erholen können. Lars, Limitationen für symptomatische Patienten? Ja, nein und wenn ja, welche? Nochmal als Zusammenfassung.
Kellert: Die allermeisten Patienten profitieren ganz sicher von der Revaskularisierung einer symptomatischen Stenose. Es gibt einige Ausnahmen, vielleicht nicht seltene Ausnahmen sind Patienten mit sehr sehr großen Schlaganfällen. Erstens macht man sich da Sorgen um Reperfusionsschaden, wenn man da zu früh operiert, also sprich massive Einblutung in den Bereich. Das sind die Patienten, bei denen man sehr vorsichtig sein muss. Zweitens aus dem Grund, weil sie möglicherweise auch ein schweres neurologisches Defizit haben. Das ist, denke ich, gerechtfertigt, wenn man erstmal eine gewisse Zeit den Repetitionsverlauf abwartet.
Und dann gibt es noch eine andere Gruppe von Patienten, bei denen wir denken, aufgrund von vorbestehenden Komorbiditäten, schwerster Herzensinsuffizienz, Diabetes oder von neu entdeckten Tumoren, die sind Patienten, die vielleicht eine sehr sehr reduzierte Lebensqualität haben. Auch da würde man möglicherweise von der Revaskularisierung von der symptomatischen Carotisstenose Abstand nehmen. Aber bei den allerallermeisten Patienten kann man nur eine Lanze dafür brechen, dass das die Maßnahme ist, um den erneuten wiederholten Schlaganfall zu verhindern.
Rantner: Muss man jetzt auch sagen, ist ja auch für einen 85-Jährigen nicht schön, wenn er perspektivisch die letzten Jahre, die ihm noch bleiben, als Pflegefall, als Vollpflegefall verbringen muss. Natürlich ist es für einen 70-Jährigen auch nicht besser, aber das Argument, denke ich, so wie du es gesagt hast, ist ja schon gerade bei den symptomatischen Patienten wirklich relevant und da sollte das Alter sehr in den Hintergrund rücken.
Wir sind von chirurgischer Seite her auch tolerant geworden mittlerweile. Also am Anfang war schon so, okay, 87-jähriger Patient, da überlegt man natürlich primär als Chirurg schon mal, ob man das Risiko mitgehen möchte. Aber in der Risikonutzenabwägung bin ich ja völlig bei dir und die Daten belegen das ja auch. Gerade die offene Operation kann sicher und effektiv bei den Patienten angewendet werden und sollte also auf alle Fälle angeboten werden, wenn das im Sinne aller ist und vor allen Dingen mit Patientenwunsch entspricht.
Kellert: Die Daten legen das nahe. Ich bin aber auch froh, obwohl wir so Daten- und Studiengetrieben sind, dass unsere persönlichen Erfahrungen da auch jetzt wirklich immer sehr positiv waren. Auch das ist beruhigend.
Rantner: Bei den asymptomatischen hingegen bin ich persönlich eben schon etwas restriktiver, muss ich sagen, ich mache ja selber Carotis-Sprechstunde, wo zunehmend eben diese älteren Patienten auftauchen. Du sagst, wenn sie der Neurologe gesehen hat, ist die Indikationsstellung natürlich doppelt getragen. Aber was wären jetzt so deine Einschränkungen, wo man sagt, okay, das bleibt in der Beobachtung, da wird die asymptomatische Stenose tatsächlich aufgrund des Alters oder des Gesamtzustands des Patienten doch eher konservativ bleiben?
Kellert: Mäßiger Stenosegrad ist, glaube ich, glasklar, kommt typischerweise gar nicht in Frage. Erst ab 70 Prozent würden wir sagen, wird das Ganze interessant. Wenn wir da Patienten haben, die wir möglicherweise schon Jahre begleiten ambulant und die einen ganz konstanten Befund haben, die sehr medikamentencompliant sind und die richtigen Medikamente nehmen, dann sehe ich da keinen Grund, beim über seit Jahren bestehenden konstanten Stenosegrad dann auf einmal zu einer operativen Sanierung zu raten. Das sind sicherlich Patienten, die kann man weiter beobachten. Patienten, die rasch progredient sind oder auf einmal auftauchen mit einer höchstgradigen Stenose, möglicherweise auch Co-Pathologien haben wie kontralaterale Stenose oder kontralateraler Verschluss, das sind sicherlich schon Hochrisikokandidaten, die man auch bei asymptomatischer Stenose insgesamt vielleicht ein bisschen strenger indizieren müsste.
Rantner: Ausschlusskriterien, alles das, was du ja schon auch bei den symptomatischen natürlich gesagt hast, relevante Herzinsuffizienz, Tumorerkrankungen, solche Dinge, die die Lebenserwartung offensichtlich beeinflussen werden.
Kellert: Ja, sowieso.
Rantner: Ja, es war spannend und schön, diese Ergebnisse und das Thema mit dir zu diskutieren, Lars. Vielen Dank nochmal, dass du dir die Zeit genommen hast, das mit unseren Hörerinnen und Hörern zu teilen. Ich hoffe, sie konnten wertvolle Erkenntnisse aus dieser Folge mitnehmen. Lars, hast du noch ein abschließendes Wort, das du unseren Hörerinnen und Hörern mitgeben möchtest?
Kellert: Vielen Dank erstmal auch an dich, Barbara, für eine sehr kurzweilige ungefähr 20 Minuten. Nee, ich glaube, es gilt ganz grundsätzlich, es gibt immer eine individuelle Beratung für Patienten. Damit fährt man auf jeden Fall besser, als wenn man alles über einen Kamm schert. Und ich glaube, es ist für uns alle eine gute Nachricht. Alter per se heißt jetzt nicht, dass man von wertvollen Therapien ausgeschlossen werden sollte.
Rantner: So, bedanken wir uns nochmal für Ihre Aufmerksamkeit. Falls Sie Fragen oder Feedback haben, wir sind immer an Ihrer Meinung interessiert, schreiben Sie uns gerne an. Die E-Mail-Adresse wäre podcasts@medizinkommunikation.org und wir speichern immer alle Informationen und Quellen zur Folge in den Shownotes, wo Sie auch das Paper, zu dem wir uns heute ausgetauscht haben, nachlesen könnten. Ansonsten freue ich mich schon auf die nächste Folge. Bis dahin wünsche ich Ihnen eine gute Zeit. Bleiben Sie interessiert und auf bald.